Rückblick: Lokaler Dialog der Generationen über Lebensgeschichten und Flucht
Im Projekt »Generationen im Dialog über Flucht in Geschichte und Gegenwart« begleitete das Anne Frank Zentrum zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure darin, vor Ort lokale Dialogprojekte zu Lebensgeschichten und Flucht zu organisieren. Dafür wurde das Format der Lebendigen Bibliothek weiterentwickelt. Ziel des Projekts war, Jugendliche und Erwachsene miteinander ins Gespräch zu bringen und die Auseinandersetzung mit Fluchterfahrungen von Menschen in ihrer Nachbarschaft anzuregen.
Die Lebendigen Bibliotheken fanden in vier ostdeutschen Städten statt: Greifswald, Kyritz & Wusterhausen, Fürstenwalde und Königstein (Sächsische Schweiz). Die Orte wurden Anfang 2016 mittels öffentlicher Ausschreibung festgelegt. Bündnisse zivilgesellschaftlicher Akteure in Zusammenarbeit mit kommunalen Partnern verantworteten die Umsetzung vor Ort. So festigte das Projekt zugleich lokale Netzwerke. Das Anne Frank Zentrum begleitete die Projektpartner mit einer 3-teiligen Fortbildungsreihe und stand über den gesamten Zeitraum für fachliche Beratungen zur Seite. Inhalte dieser Fortbildungsreihe waren das Kennenlernen und der professionelle Austausch, Strategieentwicklung für ein starkes Netzwerk vor Ort, Einführung in das Format »Lebendige Bibliothek« , Flucht als Gegenstand der Jugend- und Erwachsenenbildung, Umgang mit Leerstellen im erinnerungskulturellen Diskurs, Methoden und Konzepte des intergenerativen Dialogs.
An allen Projektorten fanden im Herbst 2016 Lebendige Bibliotheken statt. Insgesamt kamen rund 300 Besucher*innen in den Lebendigen Bibliotheken ins Gespräch.
Das Format der Lebendigen Bibliothek funktioniert wie eine echte Bibliothek: In einer Tages- oder Halbtagesveranstaltung stellen sich Menschen mit ihren Lebensgeschichten als »Bücher« zur Verfügung. Eine Tafel im Eingangsbereich gibt eine Übersicht über alle Personen, die sich mit ihrer Biografie zur »Ausleihe« stellen. Die Gäste der Veranstaltung – die »Leser*innen« – können sich die »Lebendigen Bücher« für etwa 20-30 Minuten entleihen. Für das Gespräch ziehen sich die Beteiligten an einen ruhigen Ort zurück. Die »Bücher« werden auf ihren Einsatz in der Lebendigen Bibliothek intensiv vorbereitet und auch während der Veranstaltung betreut. Ein Team von Helfenden sorgt für einen reibungslosen Ablauf. Sie helfen den ankommenden Gästen dabei, die Regeln der Lebendigen Bibliothek zu verstehen und beraten individuell bei der Auswahl eines »Buchs«.
Eine Lebendige Bibliothek bietet die Chance einer persönlichen Begegnung und des Dialogs. Als offene Veranstaltung angelegt, lädt das Format Besucher*innen ein, ihrer Neugier zu folgen und das Gespräch zu suchen. Dies macht die Lebendige Bibliothek zu einem niedrigschwelligen Angebot, mit dem Menschen erreicht werden können, für die verbindlichere Angebote wie z.B. die Teilnahme an einer Fortbildung oder einem Workshop nicht in Frage kämen.
Das Format der Lebendigen Bibliothek ist geeignet, vielfältige Perspektiven und verschiedene zeithistorische Kontexte einzubinden. So können in eine Veranstaltung Lebensgeschichten und Biografien von Menschen aus verschiedenen Herkunftsregionen eingebracht werden. Etwa Fluchterfahrungen, die bereits länger zurückliegen oder auch solche, die noch sehr frisch sind.
Bereits in vergangenen Dialogprojekten über Geschichte standen wir vor der Herausforderung, dass es Leerstellen im Erinnerungsdiskurs gibt. Wie können, wie müssen Lebensgeschichten von Menschen einbezogen werden, die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur wurden, fliehen mussten oder gar ermordet wurden? Das Format der Lebendigen Bibliothek bietet auch hier Möglichkeiten. Für unser Anliegen haben wir das Format um ein weiteres Genre im Bibliotheksbestand erweitert: der Biograf bzw. die Biografin. Dies ist eine Person, die sich mit der Lebensgeschichte eines Menschen beschäftigt hat, die in der NS-Diktatur Diskriminierung ausgesetzt war und verfolgt wurde. Dies können an Zeit- und Lokalgeschichte interessierte Menschen oder auch Nachkommen von NS-Opfern sein. Auf diese Weise fand beispielsweise die Lebensgeschichte der Anne Frank Eingang in die Lebendige Bibliothek in Fürstenwalde. Sie wurde dort von einer freien Mitarbeiterin des Anne Frank Zentrums eingebracht, deren Eltern vor einem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland geflüchtet sind. Interessierten Leser*innen hat sie auch von dieser familienbiografischen Erfahrung erzählt. In Königstein (Sächsische Schweiz) hingegen konnten Besucher*innen der Lebendigen Bibliothek von der Lebensgeschichte eines Juden aus Dresden erfahren, der in der NS-Zeit fliehen musste.
Das Projekt wurde durch die Berichte der lokalen Presse der 4 Projektstandorte begleitet. Medienpartner war das Couragiert-Magazin der Aktion Zivilcourage e.V. In 3 Ausgaben des Magazins wurde über die Vorbereitung und Umsetzung der Lebendigen Bibliotheken berichtet. Im Rahmen der Medienpartnerschaft entstanden zudem 4 Filmclips zum Format der Lebendigen Bibliothek und dem Dialog der Generationen über Lebensgeschichten und Flucht. Sie geben Interessierten Einblicke in die Projektumsetzung und unterstützen darin, eigene Dialogveranstaltungen zu organisieren. Aktuell werden die Erfahrungen und Reflexionen des Projekts in einer Handreichung festgehalten.